„Narcissus und Echo"
Städtische Galerie Ostfildern, Germany
2002
Martin Mezger bei der Eröffnungsrede
E
c h o u n d N a r z i s s i m G a r t e n E d e n
Martin Mezger, Esslingen
Triftigerweise bezeichnen Bettina Bürkle und Klaus Illi ihre pneumatischen Skulpturen mit den riesigen Stängeln und prallen Früchten als "Pflanzen". Am Saum zu anthropomorpher Bildlichkeit
scheint jedoch zugleich einem anderen Diskurssystem anzugehören, was - aus Pflanzenperspektive gleichsam im Zeitraffer - anschwillt und erschlafft: den Funktionen menschlicher Sexualorgane, damit
einer Übertragung auf die zur Bild-Sprache gebrachten Regelkreise menschlicher Triebstruktur. Zunächst freilich ist das Reich der Flora aus menschlicher Sicht kein bevorzugtes Ziel sexueller
Projektionen. Im Gegensatz zur Fauna, deren Gattungen in Tierfabeln als Träger menschlich-allzumenschlicher Eigenschaften und damit auch Triebregungen herhalten müssen, sind Pflanzen für uns in
geschlechtlicher Hinsicht neutral. Pointiert gesagt: unbeschriebene Blätter.
Selbstverständlich gilt das nicht für die Botanik, die sich wissenschaftlich mit der geschlechtlichen Fortpflanzung der Vegetation beschäftigt. Doch auf der Ebene der Symbolik und damit auch
jener Bildsprache, die in der Kunstgeschichte erscheint, haben Pflanzen primär keine Sexualität. Es mag mit ihrer stationären Lebensweise zusammenhängen, ihren im Wortsinne eben nur vegetativen,
aber nicht ausdrucksmotorischen oder interaktiven Regungen, dass sie als Gegenbilder menschlicher Affekte ausscheiden.
Allerdings trifft das nur für den zwischenmenschlichen "Normalfall" - auch jenen der Sexualität - zu. Auf einer höheren Abstraktionsebene kann das Bild der Pflanze allerdings umschlagen ins
Emblem isoliert betrachteter menschlicher Charaktereigenschaften, etwa des "bescheidenen" Veilchens oder der "stolzen" Rose. Die Emblematik selbst kehrt das Starre am Zeichen hervor: nicht die
hermeneutische Dynamik, sondern die topisch festgefügte Denk- und Sinnfigur. Darin mag die Affinität des stationären Pflanzenwesens zu seiner emblematischen Ausdeutung liegen. Gerade deshalb
taugt das zyklische Pflanzen- als Sinnbild des allgemein-menschlichen Lebens: Knospe, Blüte und welke Blätter vertreten als Topos den biologischen Reifungs- und Alterungsprozess schlechthin,
somit das, was an menschlicher Existenz der Biologie geschuldet und auf sie zurück-geworfen ist. Zwangsläufig wird auf dieser Ebene der holde Garten Floras zur "deflorierbaren", also sexuell
affizierten Sphäre. Um nichts anderes geht es etwa in Goethes Vergewaltiger-Song vom Knaben, der ein Röslein stehen sah und dem dabei wohl ein zutiefst eigenes Körperglied "steht".
Obendrein wird das Röslein zum wehrhaft-dornigen, dennoch hilflosen Opfer einer Sexualität, die sich in zerstörerische Aggressivität verwandelt. Gerade die starre Passivität der Emblematik
scheint daher geeignet, "extremistisch" aufgeladen zu werden, also ins Bild existenzieller Grenz- überschreitungen zu treten. Dies gilt - im anderen Extrem - etwa von jenen Lilien, die auf jedem
traditionellen Madonnenbild die Keuschheit der Jungfrau Maria kennzeichnen. Auch dies ist letztlich die Bekundung einer außer sich geratenen, in ihr Gegenteil verwandelten Sexualität.
Just das Stichwort von der Verwandlung (Metamorphose) - verstanden als Überschreitung der vorgezeichneten existenziellen Möglichkeiten - ist im Falle Illis und Bürkles von terminologischem
Belang. Metamorphose meint ein Doppeltes: einerseits jenes literarische Werk, in dessen Kontext sich der Narziss- und Echo-Werkzyklus kraft seines Titels ausdrücklich stellt, nämlich Ovids
„Metamorphosen"; andererseits jenes genetisch-evolutive Prinzip einer durch Verwandlung vielfältig
ausdifferenzierten, dennoch von einem Ur-Keim stammenden Biosphäre - ein Prinzip, das
naturphilosophisch dem ins Mythologische gewendeten Weltenepos Ovids zu Grunde liegt und das noch in Goethes Gedicht "Metamorphose der Pflanze" als erotisch illuminierter Inbegriff allen Lebens,
allen Vereinigens, Zeugens, Entstehens, Vergehens und steigernden Wiederentstehens hymnisch gefeiert wird.
Bürkle und Illi geht es also ums Prinzip. Ihre "Pflanzen" stehen für den vielfältig verwandelten, doch stets schöpferischen, treibenden, an- und abschwellenden Eros. Die Kinetik der Objekte teilt
solche Zyklen des Lebens auf spontan fassliche Weise mit, stellt sie aber auch in den komplexen Bezugsraum von Ovids Echo und Narziss, einer Erzählung vom Sündenfall der unglücklichen, der
tragischen Selbsterkenntnis.
Dreifältige Beziehungen
Diese textuell-visuelle Disposition tritt in Bürkles und Illis Installation in dreifältige Beziehungen: die haptische Präsenz der Arbeiten selbst, ihren Bezug auf den Mythos und schließlich die
Repräsentation des "narzisstischen" Komplexes. Der Mythos wiederum öffnet Räume, in denen eine zweite Wahrnehmungsstufe spielt. Auch diese ist unterteilt in drei Ebenen: den Garten als Refugium
einer arkadisch-idealen Natur, der auf der zweiten Ebene zum tragischen Idyll und schließlich zum Raum des Todes wird.
Die Repräsentation führt zuletzt zu einer dritten Wahrnehmungsstufe, der eines dreifachen Spiegelbilds: Spiegelbild der Organik, der Sexualität und der Zeit.
Präsenz
Bürkle und Illi lassen computergesteuert so genannte Stängel und so genannte Früchte an- und abschwellen. Die Unterschiede der Größe, der äußeren Kontur, auch der Geschwindigkeit der Bewegungen
reflektieren naturgemäß das metamorphotische Prinzip der Einheit in der Differenzierung. Wer kunstgeschichtliche Anknüpfungspunkte sucht, mag sich an Brancusi und seine kontemplativ-elementare
Formrecherche erinnert fühlen, mag aber auch an organoide Modelle der älteren Zeit denken, etwa an den Säulenwald gotischer Kathedralen oder an die Ziertürme von Pagoden, die übrigens schon Hegel
in seiner "Ästhetik" als phallisch bezeichnete.
Ein zweites Element sind Spiegelflächen, die sich selbstverständlich auf den Narziss-Mythos beziehen. Auch sie bleiben dem Verwandlungsprinzip verpflichtet, handelt es sich doch um Folienspiegel,
deren Oberfläche mit Druckluft konkav oder konvex gewölbt wird. Der Effekt erinnert an die Zerrspiegel von Jahrmärkten, aber auch an jenen Wasserspiegel, in welchem das Antlitz des Narziss bei
der geringsten Berührung zerfließt. Das Gaukelspiel der Nähe zu sich selbst verwandelt sich für das nähere Begehren in unüberwindliche Distanz. Der Betrachter sieht sich nur für einen schnell
vergehenden Moment im "Original", ansonsten verwandelt er sich in ein verfremdetes Wesen, scheint sich im Raum zu bewegen oder verschwindet ganz von der Bildfläche. Je nach Standpunkt entsteht
zudem die Wirkung des unendlichen Spiegels, also der infinitesimalen Wiederholung des eigenen Bildes: ein Zeichen der Klonierung, der unendlichen Reproduzierbarkeit des Identischen und
damit des Verlusts von eigentlicher Identität.
Auf der Ebene der Repräsentation bringt Bürkles und Illis Installation den Betrachter selbst in eine "narzisstische" Situation: Die Lust am eigenen Abbild mündet in die optisch veranschaulichte
Form
des Verschwindens oder des Verwandelns, und zwar in der Nachbarschaft jenes üppigen Wucherns und Schwellens, das für die Er- und Auflösung des Narziss im zeitlos wiederkehrenden, aber
unpersönlichen Vegetationszyklus steht (es sei daran erinnert, dass Narziss bei Ovid in die gleichnamige Blume verwandelt wird). Emblematisch repräsentiert die Narzisse den Narziss. Bürkles und
Illis Installation geht noch darüber hinaus. Sie entspricht einem Zur-Schau-Stellen der reinen Repräsentation, also der Stellvertretung des Abwesenden: Re-präsentiert wird, was nicht präsent ist.
So sehr das geliebte eigene Wesen des Narziss sich selbst entgleitet, so sehr wird der Betrachter zum unerreichbaren Bild seiner selbst.
Drei Räume
Der Schauplatz solcher Repräsentativität ist bei Ovid wie in Bürkles und Illis Kunst-Welt einer künstlichen Natur der Garten. Dessen einfachste Definition ist der Gartenzaun, also die physische
oder auch imaginäre Abgrenzung von der Außenwelt. Narziss bewegt sich in einem solchen Hortus conclusus: in der Exklusivität eines nur auf sich fixierten Selbst. Jeder Garten ist eine Nachahmung
des Paradieses, damit aber auf zwiespältige Weise mit der kollektiven Imagination der Menschheit verbunden: Das Paradies ist zuvorderst jener Ort, aus dem man vertrieben wurde. Denn mitten im
Paradies keimt die Hölle, der verbotene Baum der (Selbst-) Erkenntnis - was im biblischen Sinne auch die Sexualität meint, hier also die narzisstische Autoerotik. Der Betrachter, dem Bürkle und
Illi die Rolle des Narziss zuweisen, wird aus ihrem Garten spiegelbildlich "vertrieben" - und gleichzeitig angezogen von den plastisch bewegten Objekten, die - kraft einer regressiven
Rückkoppelung ihrer sexuellen Symbolik - eben auch wie Perspektiven aus einer halb vergessenen, vage erinnerten Kinderwelt erscheinen. Ihre Größe lässt einen sozusagen zum Kind schrumpfen, das an
den Hosenbeinen des Vaters hochschaut.
Die Anziehungskraft und die Gefahr der Vertreibung: Beides spiegelt die verlorenen Paradiese der Kindheit, beides entspricht der Situation des Narziss. Das lockende Idyll ist ein tragisches. Im
Falle des mythischen Narziss, der gezeugt wurde bei der Vergewaltigung einer Nymphe durch einen Flussgott, kehrt nicht nur das in die Selbstzerstörung gewendete Motiv der Gewalt wieder. Vielmehr
wurde Narziss zur Personifikation eines scheiternden Erwachsenwerdens am Ausgang der Kindheit. Die naive Autoerotik führt bei ihm gerade nicht zur Selbstbefriedigung, sondern zur triebhaften
Vergötterung eines unerreichbaren Ich-Ideals. Der Exklusivität des eigenen Idylls ausweglos verhaftet geht er gerade daran zu Grunde. Er erfährt, über die aussichtslose Selbstliebe hinaus, die
tiefste aller narzisstischen Kränkungen: den eigenen Tod. Und doch bleibt in ihm etwas von der Attraktivität des Idylls erhalten, vom Wunschtraum einer holdselig wiederkehrenden Kindheit. Sigmund
Freud hat scharfsinnig bemerkt, "dass der Narzissmus einer Person eine große Anziehung auf diejenigen anderen entfaltet, welche sich des vollen Ausmaßes ihres eigenen Narzissmus begeben haben" -
die, kurz gesagt, erwachsen wurden. "Der Reiz des Kindes", so Freud weiter, "beruht zum guten Teil auf dessen Narzissmus, seiner Selbstgenügsamkeit und Unzugänglichkeit."
Der melancholische Blick auf die Kindheit birgt damit aber auch jenen Todestrieb, der in letzter
Instanz ihren Verlust überkompensiert. Darin liegt die Tragik des Narziss, und genau sie repräsentiert sich in frappanter Weise in Bürkles und Illis Installation: Sie öffnet den Raum des Todes,
versinnbildlicht durch die erschlafften, quasi verwelkenden Pflanzenkörper, die laut Mythos ja nichts anderes sind als Metamorphosen des Narziss. Kümmerlich sinken sie in sich selbst zusammen,
wenn sie - im ganz wörtlichen Sinn - sich selbst überlassen werden. Also die narzisstische Ur-Situation wiederherstellen. Dahinter steckt darstellerisch ein simpler technischer Trick, nämlich ein
Bewegungsmelder, der das Schwellen und Wachsen der Kunstpflanzen auslöst, sobald ein Besucher den Raum betritt. Nur die "Störung" von außen erweckt den Hortus conclusus zum Leben. Damit verkehrt
sich das Narziss-Prinzip dialektisch ins Gegenteil - oder wird zum Totenreich, in welchem der tote Narziss noch im Unterweltsfluss sein schattenhaftes Antlitz sucht. Seine Verwandlung zur Pflanze
weist jedoch ins Leben zurück.
Spiegelbilder
Denn der Tod hat nicht das letzte Wort. Die Installation ist selbst eine Repräsentation, ein utopisches Spiegelbild der Natura naturans, ihrer schöpferischen und unvergänglichen Potenz, gebannt
in kinetische und skulpturale Gestalt. Auf ästhetischer Ebene folgen Bürkle und Illi einer Mimesis ans Organische: keinem historisch-finalistischen oder gar eschatologischen Modell, sondern dem
Zyklus von Werden, Vergehen und neuem Werden. Goethe hat dieses Elementarphänomen des Lebens mit den Begriffen Systole und Diastole bezeichnet, die im ursprünglichen Sinne die Zusammenziehung und
Ausdehnung des Herzmuskels meinen, dem Dichter aber zum Inbegriff aller Äußerungen des Lebens werden.
Nichts anderes als diesen elementaren vitalen Puls bilden Bürkles und Illis Installationen ab: das Auf und Ab von Wachsen und Verfallen, das Ein und Aus der Atmung, überhaupt jedes Expandieren
und Kontrahieren, jedes Entäußern und Verinnerlichen. Die Reifung, die zur Frucht führt, ist auf dieser elementar-organischen und zugleich metaphorischen Ebene dem Tod verschwistert, dem Tod als
extremste Form der Entäußerung. Aber es ist kein Tod als finaler und letztgültiger Exitus, sondern ein Tod im Sinne des alten "Stirb und Werde", wie es im neutestamentarischen Gleichnis vom
Weizenkorn aufscheint.
Ein Tod also, der mit den Vitaltrieben auf's Engste verbunden ist. Auf einer weiteren Ebene repräsentiert diese Arbeit damit den eigentlichen Bruder des Todes - nicht den Schlaf, sondern die
Sexualität. Die Repräsentation der Sexualität erfordert keine allzumenschliches Maß nehmende Umdeutung dieses organoiden Skulpturenfelds. Denn Bürkle und Illi machen sich ein Bildnis von Systole
und Diastole, von Erregung und Erschlaffung, von Steigerung und Verausgabung, von Vitalem und Letalem, kurz: von jenem organischen Atavismus selbst, der als Sexualität unmittelbar in die
menschliche Ordnung der Dinge hineinragt. Nicht ohne Grund hat Georges Bataille, einen alten poetischen Topos aufgreifend, den Orgasmus als "kleinen Tod" bezeichnet.
Damit stellt sich schließlich die Frage nach der Dimension, in der sich Organik und Sexualität in Bürkles und Illis Arbeit repräsentieren. Diese Dimension ist die Zeit - jene zyklisch-gerundete,
in ihren eigenen Anfang übergehende Zeit, die sich markant unterscheidet vom Schema des linearen Fortschreitens, das wir unserer üblichen Zeit-Vermessung routiniert zu unterlegen gewohnt sind.
Die strenge Trennung der Vergangenheit von einer heilsgeschichtlich näherrückenden Zukunft, die die
Gegenwart zum Nullpunkt schrumpfen lässt, ist die Folge einer christlich-eschatologischen
Überformung der ursprünglichen Kugelgestalt der Zeit. Erst im Angesicht eines Endes der Zeit kann Zeit zum Fortschritt werden.
Dagegen kehrt bei Bürkle und Illi die Zeit in ihrer unmittelbaren Präsenz, ihrer Gegenwärtigkeit, ihrer Gestalt der sich um sich selbst drehenden Kugel wieder. Sie wird zum Medium, in der sich
diese künstlerische Arbeit in letzter Instanz artikuliert. Die Zeit der steten Wiederkehr, der Wiederholung des Immergleichen ist ihr immateriellstes und zugleich hyperrealistisches Organ. Bürkle
und Illi haben die Bewegungsabläufe ihrer "Pflanzen" in seriellen Folgen organisiert, in variablen Rhythmen, deren Überlagerung ein stets verändert erscheinendes Ensemblebild ergibt. Doch selbst
wenn man die Möglichkeit der Zufallssteuerung einbezieht, ist es in der Tat nur eine Frage der Zeit, bis die Variationen in Wiederholungen münden.
Dieser Artistik der wiederkehrenden Zeit, dieser Präsenz des Immateriellen entspricht als eigentliches Werk-Material jener Stoff, der sich dem künstlerisches Materialbegriff entzieht: die Luft.
Die Spiegel, die unter einigen der Stängel montiert sind, gewähren zwar Einblick ins textile Innenleben der Kunst-Pflanzen, vor allem aber in einen Hohlraum: in die signifikante Leere.
Signifikant ist die Leere, weil sie jene Immaterialität repräsentiert, auf die diese Arbeit mit radikaler Konsequenz zielt. Bürkles und Illis Installation ruft eine Zeit vor und nach der Zeit
herauf - vor und nach einer endzeitlich fortschreitenden, sich verbrauchenden Zeit. Die Installation ist damit Verheißung einer Utopie, wörtlich übersetzt: Ort, der nirgends ist. Da wir Zeit
letztlich nur räumlich - als Zeit-Raum - denken können, steht der Ort, der nirgends ist, für die Zeit, die nie ist. Oder nicht mehr und noch nicht ist. In ihren Bild-Chiffren spiegeln Bürkle und
Illi nichts anderes als jene höchst eigentümliche und verschlossene "Ortszeit", von der die Zeit uns schied: den Garten Eden, die paradiesische Ewigkeit.
Katalogtext
"Pflanzenatem", Fellbach 2003, S. 31-40
© Martin Mezger