"ich atme für dich"

Kreuzkirche Nürtingen

30. Juni - 28. Juli 2019

Pflanzenatem / Plantbreath

Eröffnung

Pflanzenatem / Plantbreath

Eröffnung, 30.6.2019

Schwankender Wald / Swaying forest und Pflanzenatem / Plantbreath

Eröffnung, "Schwankender Wald" in der Apsis

Pflanzenatem / Plantbreath

Der Besucher löst das Geschehen aus. Die Objekte befinden sich meist noch im Ruhezustand, aber die ersten beginnen sich Aufzurichten, "Einzuatmen".

Pflanzenatem / Plantbreath

Oft wird dieser überraschende Atembeginn mit einem Lächeln zur Kenntnis genommen. 

Pflanzenatem / Plantbreath
Schwankender Wald / Swaying forest und Pflanzenatem / Plantbreath

Zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgt ein kollektives, gemeinsames "Einatmen" (ca. alle 20-25 Minuten). 

Schwankender Wald / Swaying forest und Pflanzenatem / Plantbreath

Dieses gemeinsame Einatmen illustriert die soziale Komponente, dass wir alle den Atem und die Luft teilen.

Danach erfolgt ein gemeinsames Ausatmen in eine Stille hinein, in der alle Objekte zu Boden sinken.

Nach dieser Generalpause des gemeinsamen Ausatmens atmen alle Objekte wieder individuell weiter.

Pflanzenatem / Plantbreath

Wie das wohl funktionieren mag?

Schwankender Wald / Swaying forest

Der "schwankende Wald" im Licht der Glasfenster der Apsis.

Schwankender Wald / Swaying forest
Schwankender Wald / Swaying forest und Pflanzenatem / Plantbreath

Warten darauf, wie es weitergeht.

Schwankender Wald / Swaying forest und Pflanzenatem / Plantbreath
Schwankender Wald / Swaying forest und Pflanzenatem / Plantbreath

Entspannung im "schwankenden Wald".

Schwankender Wald / Swaying forest und Pflanzenatem / Plantbreath
Schwankender Wald / Swaying forest und Pflanzenatem / Plantbreath
ich atme für dich

Schild in einer Baumallee neben der Kreuzkirche Nürtingen.

 

„ich atme für dich“

Eine kinetische Installation in der Kreuzkirche, Nürtingen

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Bettina Bürkle und lieber Klaus Illi,

bevor die kinetischen Objekte durch vom Betrachter ausgelöste Bewegungsmelder aus ihrem schlafenden Zustand geweckt und aktiv werden, herrscht in der Kreuzkirche Bewegungslosigkeit und Stille. Ist es die Ruhe vor dem Sturm?

 

Schauen wir zunächst zurück in die Kunstgeschichte: Kinetismus war ein Zauberwort zu Beginn der 1920er-Jahre, ein Zauberwort, das viele Vertreter der geometrischen Abstraktion in Paris in seinen Bann zog und bis heute seine Faszination nicht verloren hat, wie Sie auch in dieser Ausstellung erfahren können. Kinetische Kunst spricht ein Grundthema der Kunst überhaupt an: die Wiedergabe des Bewegten im Statischen. So basieren kinetische und lichtkinetische Werke auf der Einbeziehung von Motoren und Ventilatoren, elektrischen Lichtquellen, verschiedenen Klangmaterialien sowie mechanischen und computergesteuerten realen Bewegungsabläufen. Kinetische Kunst eröffnet seit ihrer Geburtsstunde 1919/20 und dann verstärkt seit den 1950er/1960er-Jahren den Künstlerinnen und Künstlern eine ganz neue räumliche und zeitliche Wahrnehmungsdimension.

 

Das Bewegungsphänomen und damit auch die Einbeziehung des Faktors Zeit machen eine der großen Neuerungen in der Kunst der Moderne aus. Bewegung erzeugt sprühende Lebensfunken, welche die Kunst menschlich bzw. naturhaft und realistisch wirken lässt. So visualisieren die Objekte von Bettina Bürkle und Klaus Illi rhythmische und zyklische Prozesse in der Natur wie Vorgänge des Wachsens, Blühens und Vergehens und Bewegungsabläufe wie Sich-ausdehnen, Entfalten und Zusammenziehen oder Aufsteigen, Sinken und Entleeren, wie die beiden Künstler den rhythmischen Verlauf beschreiben. Auch an den lebenserhaltenden Vorgang des Einatmens und Ausatmens ist zu denken. Diese Rhythmen und zyklischen Vorgänge des Natürlichen, auch der Tages- und Nachtrhythmus oder der jahreszeitliche Wechsel gelten als Inbegriff eines fortwährenden und somit regenerationsfähigen Lebens.

 

Die Zeit der Natur umfasst die ewige Beständigkeit zyklischer Prozesse. Einmal aus dem Gleichgewicht gebracht, verliert die Natur jedoch ihren lebenserhaltenden Rhythmus. Immer sichtbarer werden heute die Auswirkungen des Klimawandels, des Artensterbens und des Verlusts der biologischen Vielfalt. Anthropozän nennen Wissenschaftler dieses „Zeitalter des Menschen“, das von extremen menschlichen Eingriffen in die Ökosysteme unseres Planeten geprägt ist.

 

Die Natur fungiert in der Rauminstallation „Ich atme für Dich“ als Motiv- und Ideengeberin der Kunst, ohne dass sie mimetisch abgebildet wird. Viel eher richtet sich der Blick nach Innen, auf Leben schaffende und erhaltende Prozesse. Johann Wolfgang von Goethe schreibt in seinen Anmerkungen zum Akademiestreit 1832: „Die Natur wendet uns gar mannigfache Seiten zu, was sie verbirgt, deutet sie wenigstens an, dem Beobachter wie dem Denker gibt sie vielfältigen Anlass, und wir haben Ursache, kein Mittel zu verschmähen, wodurch ihr Äußeres schärfer zu bemerken und ihr Inneres gründlich zu erforschen ist“.

 

An- und abschwellende rote Bodenobjekte, in unterschiedlichen Rottönen präsentiert und in verschiedenen Größen auf dem Boden arrangiert, lassen an Blütenstände oder reife Früchte denken. Senkrecht in die Höhe wachsende dunkle Objekte

 

erinnern an Pflanzenstängel und die im Chorraum platzierten Objekte setzen Assoziationen an einen „schwankenden Wald“, so auch der Titel der Arbeit, frei. Es ist vor allem die Farbe Grün, die prädestiniert ist für naturhafte Assoziationen. Grün gilt als Farbe der „erwachenden Natur“, des Wachstums und der Fruchtbarkeit; Rot verkörpert Energie, Wärme und Kraft. Die Komplementärfarben Rot und Grün im Zusammenspiel mit den abstrahierten pflanzlichen Formgebilden bringen einen vitalen Ort hervor, einen Garten Eden vielleicht, erfüllt von Hoffnung, verzaubernder Poesie, ewiger Schönheit und stiller Harmonie. Störungen erfährt der utopische Sehnsuchtsort jedoch durch die beiden energisch und rasant aufsteigenden schwarzen Objekte, die ihren Willen zu Dynamik und Expansion „teuflisch“ demonstrieren.

 

Koexistenzen von Natur und kulturellen bzw. künstlerischen Praktiken setzen in der Installation von Bettina Bürkle und Klaus Illi Gefühle und Gedanken an ein pralles, natürliches Leben, an Fruchtbarkeit und Wachstum ebenso frei, wie das Bewusstsein für den Anfang und das Ende des menschlichen Lebens, für Flüchtigkeit und Vergänglichkeit. Neben Vorstellungsbildern organischen Wachstums, das unerschöpflich ist,  rücken die ordnende menschliche Einflussnahme und durchdachte technische Steuerung wie auch Kontrolle in den Fokus der Wahrnehmung. So gehen in den Kunstwerken Natur und Kultur bzw. Technik, Chaos und Ordnung, Vorstellungen von Unendlichkeit und Endlichkeit eine Allianz ein.

Es ist das Bild eines Gartens, eines begrenzten Stücks kultivierter Natur im Spiegel der Kunst: Hier treffen Assoziationen an Zyklen der Natur wie Wachsen, Vergehen und neues Leben auf kulturelle Phänomene wie das Gestalten und Ordnen, Präsentieren und Regulieren. Klaus Illi programmiert die Choreografie der bewegten Kunstpflanzen, gibt ihnen einen individuellen und verlässlichen Bewegungsrhythmus zwischen langsamem, bedächtigem Aufsteigen, pulsierendem Emporwachsen oder schnellem In-die-Höhe-Schießen. Sie ändern immer wieder den ihnen innewohnenden Bewegungsablauf. Ein Bewegungsintervall dauert ca. 20 Minuten. Das heißt, Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren,  benötigen Zeit zur Betrachtung und Erfahrung.  

 

Aus Polyester bzw. Ballonstoff näht Bettina Bürkle die einzelnen Formelemente, die sich mit Luft füllen, zu einem plastischen Volumen aufblähen und sich leicht und fast schwebend entfalten. Es scheint, als würden die Formen beatmet. Luft, dieser unsichtbare Stoff als ästhetisches Material der Kunst wird durch die Stoffhüllen wahrnehmbar. Als Interaktion mit dem umgebenden Raum haben die Künstler das unsichtbare Material schon im 20. Jahrhundert eingesetzt. Piero Manzoni zum Beispiel folgte dem Prinzip des Ballons 1959/60 in seiner Werkgruppe „Fiato d’artista“, in denen er den eigenen Atem zum Kauf anbot. Das Pulsieren und Atmen, das Luft als interaktives Material, als lebensnotwendigen Austauschstoff charakterisiert, faszinierte auch Künstler wie Otto Piene und Christo immer wieder an diesem flüchtigen Stoff

 

Inmitten der Installation von Bettina Bürkle und Klaus Illi stehend und konzentriert das Geschehen beobachtend, werden Augen und Ohren gleichermaßen angesprochen. Der Betrachter bewegt sich zwischen den Kunstwerken, erfährt sie nicht nur als Orte der Schönheit, Diversität und Leichtigkeit  sondern auch als eigenwillige, dynamische und impulsive Akteure. So kann das Rauschen des schwankenden Waldes akustisch und durch seine Bewegungsenergie beunruhigen oder durch sein scheinbar unkontrolliertes Torkeln auch amüsieren.   

 

Es baut sich in der Kreuzkirche ein vielschichtiger Erfahrungsraum auf, in dem gleichermaßen zum sinnlich-poetischen Erleben wie auch kritischen Reflektieren des eigenen Verhältnisses zur Natur angeregt und ein geschärftes Bewusstsein für aktuelle Probleme im Umgang mit Natur und Umwelt aktiviert wird. Es geht dabei jedoch nicht um die schwärmerische Erinnerung an eine idealisierte Vergangenheit, in der das Verhältnis von Mensch und Natur noch nicht von Entfremdung und Ausbeutung der Ressourcen bestimmt und Natur noch natürliche Natur und nicht kultivierte, gezähmte Natur war. Sondern es geht um eine Perspektive für die Zukunft, um Hoffnung und Einsicht und damit um den Respekt vor der Natur und dem Leben.

 

Kunst und Natur galten immer als traditionsreiche Gegensatzpaare. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Natur verliert der Naturbegriff jedoch seine Konturen. Zugleich sollte sich der Mensch, der sich selbst in Abgrenzung zur Natur definiert hat, seines Naturseins und damit seiner Verletzbarkeit bewusst sein. So lenken die kinetischen Luftobjekte von Bettina Bürkle und Klaus Illi die Wahrnehmung des Betrachters auch auf dessen eigene transitorische Existenz, indem sie „die labile Stabilität des Lebendigen“ (Hans Gercke) bildhaft zum Ausdruck bringen.

 

Die Natur entwickelt sich aus eigener Kraft, regeneriert und reproduziert sich. Es geht deshalb den beiden Künstlern darum, eine Sensibilität für die Kreisläufe der Natur zu wecken und auf die Abhängigkeit des Menschen von ihr aufmerksam zu machen. „Außen- und Innenraum, Hülle und Luftstrom bilden ein organisches Kontinuum von Atemgeben und Atemnehmen, in das der Betrachter einbezogen ist“, formulieren Bettina Bürkle und Klaus Illi. „Ich atme für Dich“ – in dieser Formulierung artikuliert sich eine an den Menschen gerichtete Art Liebeserklärung der Natur: Der Baum atmet für den Menschen. Zwischen 30.000 und 40.000 Kubikmeter Luft verarbeitet ein Baum in unseren Breitengraden täglich. Dabei nimmt er Kohlendioxid auf, gibt den für alle Lebewesen notwendigen Sauerstoff ab, feuchtet die Luft an und filtert sie von Schadstoffen. Es ist also zum einen dieser biologische Zusammenhang, die Photosynthese, auf die der Titel der Ausstellung verweist (dieser Satz hing an einem Baum, der in Stuttgart wegen des neuen Bahnhofs gefällt wurde) und zum anderen rückt das Bekenntnis „Ich atme für dich“ das Atmen als einen gemeinschaftlichen menschlichen Vorgang in den Fokus.

 

 „Metaphorisch lässt er uns auch an unsere Abhängigkeit voneinander, an das Teilen des Atems denken und beinhaltet einen sozialen Aspekt, (...) Wir nehmen mit dem Atem nicht nur den lebensnotwendigen Sauerstoff auf, sondern „Welt“ überhaupt. Atem scheint mit Wahrnehmung einherzugehen, wie sonst wäre der Begriff der Inspiration mit seiner Doppeldeutigkeit erklärbar“, so die beiden Künstler. (Inspiration einerseits als schöpferischer Einfall, plötzliche Erkenntnis, erhellende Idee, Erleuchtung und andererseits Inspiration = Einatmen.)

 

Erst wenn wir uns auf eine Kommunikation mit der Natur einlassen, besteht eine Chance mehr über unser Gegenüber und damit über uns zu erfahren. Der Freiraum der Kunst wird zu einem Hoffnungsraum und zu einem Ort, der auf Sinneseindrücke, Phänomene und Zyklen der Natur verweist. Die Natur erschafft sich in der Kunst noch einmal, und das Kunstschöne verbindet sich mit dem Naturschönen.

 

Heiderose Langer

 

© Dr. Heiderose Langer, Kunststiftung Erich Hauser, Rottweil