Pflanzenatem / Wolkenatem / Plantbreath / Cloudbreath / Airplants
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Der zweite Frühling – Flower Power rules! 

 

Marko Schacher  M.A.

 

Wir leben in einer von Hektik geprägten Welt. Unsere Gesellschaft, unsere Umwelt und wir sind in ständiger Bewegung. Wir hetzen von der Tiefgarage zum Schreibtisch, zum Meeting, zum Außentermin, vom Büro nach Hause, ins Kino, ins Theater, von einer Veranstaltung zur nächsten. Gut, dass es die Dominostiftung gibt. Gut, dass es Bettina Bürkle und Klaus Illi gibt. Mit ihrer dreiteiligen, „Zweiter Frühling“ betitelten Rauminstallation haben die beiden Künstler visuelle Stolpersteine geschaffen, zeitlose Augenschmeichler, Pflaster der Poesie auf unserer von Rastlosigkeit befallenen Seele. Die unvermittelte Begegnung mit den Kunstwerken hat eine Kontemplation zur Folge, eine Entschleunigung. Der von Bürkle und Illi geschaffene dreidimensionale Erlebnisraum bietet gleichermaßen Anreize für Augen, Ohren, Hirn und Hände. Die Exponate changieren zwischen geometrischer Kühle und floraler Anmutung. Sie orientieren sich zwar an einfachen geometrischen Formen, dehnen diese aber buchstäblich mit Hilfe pneumatischer Techniken, so dass die Mathematik ihre Poesie entfalten kann.

Die Besucher dieses Haus können die Ausstellung von Bettina Bürkle und Klaus Illi nicht einfach links liegen lassen und passiv rezipieren. Er bzw. sie muss sich – ob er/sie will oder nicht – jedenfalls körperlich mit der Installation auseinandersetzen:

Wer das Haus durch den Haupteingang betritt, wird von zwölf Objekten aus halbtransparenter blauer Ballonseide empfangen, die, teils gleichzeitig, teils versetzt, in unterschiedlicher Geschwindigkeit nach oben wachsen und sich wieder in sich zusammenziehen. Während die anderen im Foyer des Hauses herumlümmelnden Objekte eher Individuen darstellen, scheinen sich hier zwölf Objekte zum Rudel zusammengeschlossen zu haben. Flower Power rules! Diese verschworene Gruppe scheint sich bewusst von den im Atrium wachsenden Grünpflanzen distanziert zu haben, scheint ihr eigenes „Ding“ durchzuziehen. Aufgrund der größeren Strenge – sowohl die eigene Form, als auch die gemeinsame Anordnung betreffend – wirkt diese Gruppe starrer, disziplinierter, ernster als der Rest der Exponate.

Abhängig von den eigenen Erfahrungen und der eigenen emotionalen Verfassung wird man die Szenerie verschieden deuten und in die jeweiligen Schubladen des eigenen Gefühlshaushalts einordnen. Assoziationen an einen Tempel, eine Tafelrunde, einen Kult-Platz sind ebenso möglich wie Erinnerungen an männliches Potenzgehabe oder verliebte Quallen. Kunsthistorisch vorbelastete Besucher mögen sich wiederum an die „endlose Säule“ von Constantin Brancusi erinnert fühlen. Wer sich in der Gartenkunde ein wenig auskennt, wird möglicherweise an die Flora der eher geometrisch gestalteten „französischen“ Gärten erinnert.

 

Ein paar Meter weiter sprießen Bodenknospen in verschiedenen Rot-Nuancen zwischen kräftigem Rot, grellem Rot-Orange und lieblichem Rosa aus dem Parkett. Die eher gemütlich, teils auch behäbig daher kommenden rundlichen Formen plustern sich auf – bis zu einem prallen, stehenden Endzustand, um sich dann wieder, sich allmählich entleerend, zu setzen – nur um sich wenige Momente später wieder neu zu erheben. Assoziationen an Vasen, Lampions, Früchte und Seerosen sind möglich, erlaubt und beabsichtigt.

Eine der roten Formen ist ausgebüxt, hat den Absprung gewagt und sich auffällig unter die weißen Wolkenwesen gemischt. Überhaupt scheint es in diesem Bereich des Foyers sehr viel ungezwungener zuzugehen.

Wer, möglicherweise auch angeregt durch die Aufwärtsbewegung der roten Erdknospen seinen Blick nach oben schweifen lässt, erblickt einen Luftgarten, in dem riesige Pilze, Früchte und/oder Wolken wachsen. Die sagenumwobenen hängenden Gärten der Semiramis in Ninive würden vor Neid verdörren. Die weißen von der Decke hängenden Objekte ziehen sich füllig und kürzer werdend nach oben zurück, wo sie im prallen Endzustand mehr oder weniger lang verharren, um sich dann erschlaffend wieder abzusenken.

Die künstlichen, vom Luftzug im Raum zusätzlich bewegten Wolkenobjekte treten in eine reizvolle Wechselbeziehung zu den realen, durch das Glasdach sichtbaren Wolken und beeinflussen wie ihre „Schwestern“ und „Brüder“ die Lichtverhältnisse im Atrium, indem sie das hereinströmende Licht mal mehr, mal weniger verdecken oder durchlassen.

Jede Pflanze im Atrium hat – wie auch die hier temporär oder dauerhaft anwesenden Menschen – ihren eigenen Rhythmus, ihren eigenen Charakter. Es gibt die dynamisch pulsierenden, prallen Energiebündel ebenso wie die eher laschen Durchhänger, die sich aufplusternden Angeber ebenso wie die eher unauffälligen Mimosen, Diejenigen, die nach Höherem streben und Diejenigen, die den Boden unter den „Füßen“ nie verlieren.

Es gibt eher männlich und eher weiblich anmutende Figurationen. Teilweise wachsen die Objekte aufeinander zu, teilweise entfernen sie sich voneinander, einige berühren sich fast, andere scheinen sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Auch diese Situation kennen wir aus dem täglichen Leben.

Die von Bettina Bürkle und Klaus Illi kreierten Objekte besetzen zwar den Raum, geben ihn aber auch wieder frei. Im Grunde bestehen sie lediglich aus ein paar Quadratmeter Ballonseide. So machen uns Bürkle und Illi auf die Beschränktheit der tradierten Begriffe „Skulptur“ und „Plastik“ aufmerksam. Statt ein Gebilde aus weichem Material zu formen oder eine Form aus hartem Material zu hauen, erschaffen die beiden in fairer Gemeinschaftsarbeit mit handwerklichen Fähigkeiten, technischem Verstand, vor allem aber mit viel Sinn für Poesie und Ästhetik fantasievolle Membran-Objekte, die eigentlich nur aus Luft und Liebe bestehen.

In ihrem Ausstellungskonzept haben die beiden Künstler geschrieben: „Die Installation lotet den Raum aus, lässt den Blick nach oben schweifen, macht die Architektur bewusst – sie lässt den Raum atmen“. Und genauso ist es. Mit kindlicher, keineswegs aber kindischer Spielfreude und Neugier erforschen Bürkle und Illi die Grenzen zwischen Skulptur und Rauminstallation und verwandeln das Foyer des Dominohauses in eine begehbare Skulptur, in eine Art Gesamtkunstwerk.

Der erwachsene Besucher wird hier wieder zum Kind, das mit großen Augen und offenem Mund durch einen gleichsam verzauberten wie verzaubernden Märchengarten wandelt. Egal ob man aktiv durch diese Märchenwelt wandelt oder das ganze auf einer Bank sitzend als Choreografie, als Theaterstück passiv rezipiert, man wird vom kontemplativen, fantasievollen Charakter der Installation erfasst. Bettina Bürkle und Klaus Illi  haben das Foyer des Dominohauses in einen Erlebnisraum verwandelt, der uns mit einem „Wow“ im Kopf an den Arbeitsplatz oder in den Alltag entschwinden lässt.

 

Das Resultat ist mehr als die Summe der Einzelteile. Die Objekte, Reflexionszentren mit Kontemplation und Aktion, scheinen Geschichten zu erzählen. Sie verbinden sich zum abwechslungsreichen Rhythmus des Lebens, zum kinetischen Skulpturenfeld,

das durch ein ruhiges, kontinuierliches Fließen von Farben und Formen und von Lebensenergie erfüllt ist. Wohl selten sah man Kunst, Natur und Technik so friedvoll vereint. Es gibt keine richtigen und falschen Interpretationen, nur ein Bewegt-Sein, ein Berührt-Sein, ein Fasziniert-Sein. Der Besucher wird nicht nur zum Betrachter, sondern zum Bestandteil der Rauminstallation.

Möglicherweise erwischt man sich plötzlich dabei, wie man seine eigene Atmung wahrnimmt und mit der Atmung einzelner Objekte synchronisiert. Oder vielleicht auch dabei, dass man darüber nachdenkt, dass der Mensch ohne die Photosynthese der Pflanzen und deren Kohlendioxid-In-Sauerstoff-Umwandlung gar nicht leben könnte.

Die zwischen abstrakt und figürlich anzusiedelnde Ambivalenz der Skulpturen hat eine Ambivalenz in der Rezeption zur Folge, die zwischen Irritation und Faszination hin- und herpendeln mag. Möglicherweise schleichen sich dem freiwilligen oder unfreiwilligen Betrachter Fragen in den Kopf wie: Wie natürlich ist die Natur noch? Oder: Wo ist der Übergang zwischen dem Natürlichen, Künstlichen und Künstlerischen in der Natur?

Die Objekte suchen und finden den Dialog zur umgebenden Architektur und zum Betrachter. So scheinen die runden Objekte längst den Kontakt zur Wendeltreppe aufgenommen zu haben, während die blauen, pulsierenden Objekte den benachbarten, in Lethargie verharrenden Grünpflanzen ein „Ätschebätsch“ entgegen zu schmettern scheinen. Manche/r nimmt durch die Wechselwirkungen mit der Architektur eventuell zum ersten Mal die poetische Dynamik des auf- und abwärts fahrenden gläsernen Fahrstuhls wahr. Wie bei guter Architektur sieht der Besucher den hinter der Präsentation stehenden Aufwand nicht wirklich, sondern erfreut sich am Hier und Jetzt.

Vielleicht vergisst mancher Gast, von den Exponaten verzaubert und zu kreativen Gedanken angeregt, seinen eigentlichen Grund, hier her gekommen zu sein. Vielleicht kommen wegen den Kunstwerken manche Besucher gar freiwillig wieder. Das würde das kreativierende Potential der Arbeiten eindrücklich beweisen.

Die Interventionen von Bürkle und Illi gleichen Appellen an unser Hirn, unseren Kopf aus dem „Stand by“-Zustand zu befreien und mitzudenken, nachzudenken, die Gedanken kommen und gehen zu lassen.

Die Skulpturen wollen adäquat betrachtet und gewürdigt werden. Machen Sie sich selbst auf ihre eigene Spurensuche in der fabelhaften Welt von Bettina Bürkle und Klaus Illi, finden Sie eigene Assoziationen und bitte den Mut und die Zeit, auf die Kunstwerke, aber auch auf die anwesenden Künstler zuzugehen.

Und bitte gestatten Sie mir noch eine etwas aufmüpfige Anmerkung. Künstlerduos sind ja immer so eine Sache. Wenn zwei Egos aufeinander prallen, geht ein Ego dabei oft kaputt oder muss sich zumindest unterordnen. Bei Bettina Bürkle und Klaus Illi habe ich das Gefühl, dass die gemeinsam erarbeiteten Formfindungen mehr sind als Kompromisse. Es sind „richtige“ Gemeinschaftsarbeiten, die den Stempel vom Oeuvre beider tragen. Das gibt es in der Kunstszene nicht oft.

Bettina Bürkle und Klaus Illi arbeiten seit mittlerweile elf Jahren zusammen am Projekt „Pflanzenatem“ und haben sich quasi über die Keramik gefunden – eine

Technik, die Hüllen-Skulpturen zum Ergebnis hat, so wie die heute und hier präsentierten Arbeiten eben auch Hüllen und damit die konsequente Fortführung der gemeinsamen Anfänge sind.

Meiner Ansicht nach verbinden Bettina Bürkle und Klaus Illi in ihren Gemeinschaftsarbeiten den Erfindergeist eines Jean Tinguely mit der Verspieltheit einer Pipilotti Rist.

Ernst Ludwig Kirchner hat 1926 konstatiert: „Es kommt nicht darauf an, wie weit man in seiner Arbeit an der Natur ist, es kommt nur darauf an, dass alles mit echtem Gefühl gemacht ist“. Bettina Bürkle und Klaus Illi sind mit ihren atmenden Boden- und Luftobjekten sehr nah an der Natur und haben alles mit echtem Gefühl gemacht.

„Es ist schon schön, wenn Du gemeinsam an einem Strang ziehst“, hat mir Klaus Illi während des Aufbaus verraten. Ich kann dem nur zustimmen.

 

© Marko Schacher