"LuftgartenLustgarten"

Kunstmuseum Heidenheim, Germany

2006

oben: Fotos von der Eröffnung

Lebensprozess und plastische Präsenz

Dr. René Hirner, Heidenheim

Einer der großen Vorzüge von Bettina Bürkles und Klaus Illis pneumatischen Skulpturen besteht darin, dass sie die meisten Betrachterinnen und Betrachter unmittelbar positiv ansprechen. Dies hat vor allem zwei Gründe, die direkt auf die Wirkungsweise und Bedeutung ihrer Skulpturen verweisen: Zum einen bewegen sich die Skulpturen und ziehen so die Aufmerksamkeit auf sich, zum anderen drängt sich der Zusammenhang zwischen ihren anschwellenden und aufsteigenden Bewegungen und natürlichen Wachstumsprozessen geradezu auf.
Interessanterweise gründen beide Phänomene weniger in künstlerischen oder kulturellen Fragestellungen als vielmehr in der Tiefenstruktur des Menschen, d. h. in seiner biologischen Ausstattung und körperlichen Erfahrung. So ist die menschliche Wahrnehmung primär auf Bewegungen fixiert, denn diese zu erkennen und zu bewerten sicherte dem Menschen ursprünglich das Überleben in einer feindlichen Umgebung. Bis heute reagieren wir Menschen deshalb stärker auf Bewegungen als auf unbewegte Gegenstände. Dies spiegelt sich auch in unserer Wahrnehmung kultureller Hervorbringungen, wo zwar unbewegte Bilder und Skulpturen dauerhafter sein mögen, die bewegten aber stets attraktiver waren und sind. Schon von alters her erregten bewegte Automaten mehr Aufmerksamkeit als unbewegte Skulpturen, waren Schauspiele beliebter als Predigten, Opern attraktiver als Konzerte und Filme ursprünglich eine Jahrmarktsattraktion für jedermann, während Museen und Galerien ein deutlich kleineres Publikum ansprachen. Daran hat sich bis heute nichts geändert: Kino, Fernsehen und Video sind deshalb die mit Abstand populärsten Medien, weil sie bewegte und vertonte Bilder in großer Zahl und Auswahl zu bieten vermögen.
Ähnlich tief verankert ist unserer menschlichen Grundstruktur die Erfahrung des Wachstums. Jeder Mensch erlebt es an sich selbst, Eltern und Erwachsene erleben das Heranwachsen von Kindern und wir alle erfahren es im Rhythmus der Jahreszeiten immer wieder neu. So gesehen vermitteln die pneumatischen Skulpturen von Bettina Bürkle und Klaus Illi etwas, was man von Kunst zwar erwarten kann, sich aber nur selten so direkt erschließt: Sinn und Bedeutung. Die Skulpturen spielen zwar, wie jede gute Kunst mit den Möglichkeiten, die eine bestimmte künstlerische Vorgehensweise bietet, aber primär künden sie vom Wachstum als grundlegendem Lebensprozess. Genau genommen stellen sie nicht nur das Wachsen, sondern auch das Vergehen dar. Denn die einmal mit Luft prall gefüllten Textilformen müssen sich auch wieder entleeren, um erneut wachsen zu können. Der unmittelbare Zusammenhang von Leben und Vergehen, von Wachsen und Sterben ist den pneumatischen Skulpturen damit sowohl technisch als auch symbolisch inhärent. Hinzu kommt, dass das Aufblasen und Ablassen der Luft dem Atmen verwandt ist, also einer weiteren existentiellen Form des Lebensprozesses.
Wie grundlegend der Zusammenhang von Leben und Vergehen ist, muss eigentlich nicht eigens betont werden, aber in einer komplexen, weit von ihren biologischen Grundlagen entfernten Welt ist er eben nicht mehr Bestandteil unseres alltäglichen Bewusstseins. Dabei hat gerade diese grundlegende Tatsache im Zeitalter ständig steigender Lebenserwartung und der Fiktion ständigen ökonomischen Fortschritts durchaus etwas befreiendes und tröstliches. Was damit gemeint ist, lässt sich anhand eines kleines Gedankenexperiments verdeutlichen: Man stelle sich vor, dass zwar alle Lebewesen geboren werden, aber nicht sterben würden. Dann würden wir in einer völlig überfüllten Welt leben, in der Klaustrophobie der herrschende psychische Grundzustand aller Menschen sein dürfte. Angesichts einer solchen Vorstellung wirken Ein- und Ausatmen, Werden und Vergehen nicht nur befreiend, sondern auch beruhigend. Insofern drückt sich in den pneumatischen Skulpturen von Bürkle und Illi eine beruhigende Weltgewissheit aus, die den Ursprung des Lebens sichtbar macht: Ein- und Ausatmen sowie Werden und Vergehen.
Wenden wir uns nun vom Grundlegenden ab und dem unmittelbar Sichtbaren und Wirksamen zu. Dabei bleiben wir zunächst bei der Bewegung, die sich in unserem entmystifizierten Zeitalter natürlich technisch rational erklären lässt. Alle Bewegungen der pneumatischen Skulpturen von Bürkle und Illi beruhen auf dem Prozess des Auffüllens und Ablassens von Luft. Elektrisch betriebene und elektronisch gesteuerte Ventilatoren blasen Luft in Hüllen aus Ballonseide. Die Handwerks- und Ingenieurskunst des Künstlerpaars besteht dabei in ihrer Erfahrung im Umgang mit diesem Prozess, der sowohl die Formen der Skulpturen als auch deren Bewegungsformen prägt.
Die Bewegungen lassen sich mittels elektronischer Steuerung und Programmierung nahezu beliebig festlegen. Beispielsweise richten sich beim Betreten des Ausstellungsraums - ausgelöst durch einen Bewegungsmelder – zwölf blaue Säulen in einem Spalier senkrecht auf. Sie bilden für kurze Zeit eine Art Begrüßungskomitee, das sich anschließend ganz anders verhält: Alternierend erhebt sich einmal die eine, ein anderes Mal die andere Seite des Spaliers, danach entsteht eine Art Wellenbewegung usw. Jeder der verschiedenen Skulpturengruppen im Ausstellungsraum geben die Künstler dabei eigene charakteristische Bewegungen, die in ihrem Ablauf wechseln.
Bezeichnenderweise beschränken sich Bettina Bürkle und Klaus Illi bei der Programmierung dieser Bewegungen bewusst auf den Aufblasvorgang, während sie das Ablassen der Luft dem natürlichen Druckausgleich überlassen. Dadurch ermöglichen sie ihren Skulpturen ein quasi „natürliches“ Ausatmen, dessen Dauer wesentlich durch die Größe der Ventilatorenöffnung sowie das Gewicht, die Größe und die Form der textilen Hülle bestimmt wird. Da sich die Skulpturen aus Ballonseide beim Ausatmen außerdem in einer bestimmten Form zusammenlegen müssen, damit sie sich beim Aufblasen in der geplanten Form allmählich wieder entfalten können, bestimmt dieser Prozess wesentlich ihre Form.
Anhand dieser Überlegungen wird schnell klar, warum Bettina Bürkle und Klaus Illi häufig mit der Form einer Säule arbeiten, die aus ringförmigen Segmenten zusammengesetzt ist. Die Ringe garantieren, dass sich die Säule wie eine Ziehharmonika zusammenlegt, wenn das Eigengewicht der Hülle die Luft durch den unten angebrachten Ventilator herausdrückt. Der Faltvorgang und die Luftzirkulation bestimmen hier also die Form, die theoretisch nahezu beliebig verlängerbar ist. In ihrer Gestalt und Höhe erinnern die voll aufgerichteten Luftsäulen übrigens an Constantin Brancusis „Unendliche Säule“, mit der dieser in den späten 1930er Jahren Kunstgeschichte schrieb. Denn sie führte erstmals das Prinzip der seriellen Wiederholung einer einfachen Grundform vor, wobei deren vielfache vertikale Übereinanderordnung das Unendliche erfahrbar machen sollte. So beeindruckend und folgenreich die „Unendliche Säule“ auch war, ihren Anspruch konnte sie letztlich nicht wirklich einlösen, denn das Unendliche ist – streng genommen – nur denk- oder rechenbar, aber niemals sichtbar. Das letztlich unmögliche Unterfangen Constantin Brancusis eine metaphysische Kategorie mit physisch-plastischen Mitteln sichtbar zu machen, verfolgen Bettina Bürkle und Klaus Illi mit ihren Säulen aber auch nicht. Vielmehr machen sie durch deren kontinuierliche Beatmung ein anderes
- mindestens für unsere Erde geltendes - Prinzip sichtbar: den Lebensprozess. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, stellen die hohen pneumatischen Säulen des Stuttgarter Künstlerpaares also so etwas wie eine realistische und weltzugewandte Antwort auf Brancusis metaphysisches Unterfangen dar.
So verwundert es auch nicht, dass die beiden Künstler neben abstrakten Formen wie Säulen, Kugeln oder Ovalen auch direkt aus der pflanzlichen Natur hergeleitete Formen aufgreifen, die an Tropfen, Blüten- oder Früchte erinnern. Dieser Bezug wird vor allem an den hängenden Skulpturen sichtbar, deren Formen aus stängelartigen Röhren herauswachsen und als Gruppe gehängt an Blütenstände erinnern.
Die hängenden Skulpturen, die Bettina Bürkle und Klaus Illi eigens für die Heidenheimer Ausstellung angefertigt haben, faszinieren aber auch noch aus einem anderen Grund. Denn so große hängende Formen kommen in der Geschichte der Skulptur kaum vor. Zwar hat der amerikanische Künstler Alexander Calder schon in den 1950er Jahre große Mobiles realisiert, doch diese haben kein plastisches Volumen, weil sie ausschließlich aus dünnen Stahlstangen und Stahlblechen bestehen. Vergleicht man damit beispielweise die aus zwei miteinander verbundenen Kugeln bestehende weiße Skulptur von Bürkle und Illi, dann ist deren enormes plastisches Volumen in aufgeblasenem Zustand unmittelbar evident. Ihre straff gespannte Oberfläche vermittelt dabei den Eindruck von wirksamer Kraft, den man z. B. bei den vergleichbaren Kugelformen von Heißluftballons vergeblich sucht. Die plastische Präsenz der hängenden Skulpturen resultiert also aus ihrer straffen Füllung und dem Umstand, dass sie deutlich sichtbar hängen, also Gewicht haben, und eben nicht schweben. So werden rein plastische Phänomene wie Kraft, Volumen und Gewicht auf eine ganz neue und ungewöhnliche Weise sichtbar gemacht. Durch den Prozess der Beatmung erscheinen diese Phänomene zugleich als Bewegung zwischen den beiden Aggregatzuständen von zusammengesunkener Hülle einerseits und kraftvoll geblähter Form andererseits, von weich und hart, hängen und stehen.
Damit nähern wir uns – meiner Ansicht nach – auch schon dem eigentlichen Kern der pneumatischen Skulpturen von Bettina Bürkle und Klaus Illi: Sie faszinieren so sehr, weil in ihnen einerseits vermittels Stoff und Luft plastische Grundphänomene sichtbar werden und andererseits menschliche Wahrnehmungsweisen und Erfahrungen angesprochen werden, die tief in unserer biologischen Grundstruktur verankert sind. In ihnen gehen – so könnte man es also verallgemeinernd zusammenfassen – das Leben und die Kunst eine höchst gelungene Symbiose ein.

Renè Hirner
LuftgartenLustgarten
Katalog Kusthalle Heidenheim 2006
© Dr. René Hirner

 


The Vital Process and Plastic Presence
by René Hirner

 

One of the great merits of Bettina Bürkle’s and Klaus Illi’s inflatable sculptures is that they have an immediate and positive message for most spectators. There are two main reasons for this, directly related to the working and import of their sculptures. First, the sculptures move, drawing attention to themselves; second, there is an unmistakable association between their upward surging and thrusting movement and the growth processes of nature.

It is interesting that both phenomena stem not so much from artistic or cultural enquiry as from the essential structure

of man, i.e. in his biological composition and his physical experience. Human perception primarily centres on movement, since it was the recognition and evaluation of movement which originally ensured his survival in a hostile environment. To this day we still react more strongly to movement than to still objects. This is also reflected in our perception of the products of our culture, in which motionless pictures and sculptures may well be more durable, but the same things in motion are, and always have been, more attractive. Right from the start automata have aroused more interest than still sculptures, actors more than preachers, operas more than concerts. The same is true of films, originally a fairground attraction for the masses, while museums and galleries drew a significantly smaller public. Nothing has changed today: cinema, television and video are far and away the most popular media because of their capacity to offer a great number and variety of moving and sounding pictures.

In the same way there lies rooted deep within our essential make-up the experience of growth. Each of us experiences it in himself, parents and adults witness children’s growth, and we all undergo it every year afresh in the rhythm of the seasons.

Seen in this manner, the inflatable sculptures of Bettina Bürkle and Klaus Illi convey something which we can expect from art,

but which seldom manifests itself so directly: sense and meaning. True, like all good art the sculptures play with the possibilities offered by a particular artistic process; but more essentially they testify to the vital process, which is growth. Strictly speaking they depict not only growth but also decline, since the fabric shapes, once inflated, must again empty to refill themselves afresh. The immediate link between growth and death is both technically and symbolically an inherent part of the inflatable sculptures. We can add to this that the inflation and deflation suggest breathing, another existential form of the vital process.

The essential link between life and death is in fact self-evident, but in a complex world remote from its biological base it ceases to be a component of our everyday life. At the same time it is this essential fact which, in an age of ever-increasing life expectancy with its fiction of permanent exconomic progress, offers freedom and solace. We can make this clear with a small

experiment in thought. Imagine that all creatures are born but they will not die. We would be living in a vastly overfilled world

in which claustrophobia would be the dominating condition of life. Faced with such a hypothesis the idea of breathing in and

out, being born and dying, brings us not only freedom but relief. To this extent the inflatable structures of Bürkle and Illi express a reassuring global certainty which shows us the source of life: breathing, being born and dying. Let us now turn away from the life base and towards that which is immediately visible and impressive. Let us start with movement, which in our demystified age can of course be rationally explained. All the movement of Bürkle and Illi’s inflatable sculptures derives from the pumping-in and letting-out of air. Electrically driven and electronically controlled fans blow air into shapes made of balloon silk. The artisanal and engineering skill of the artistic couple comes from their experience in handling this

process, which determines not only the form of the sculptures but also their mode of movement.

The movements can be varied almost endlessly by means of electronic programming and control; for example, when someone enters the exhibition room, twelve blue columns in a row, triggered by a motion sensor, rise vertically. For a moment they form a sort of reception committee, which then behaves in a very different fashion: first one end of the row, then the other, pushes itself up; then a sort of waving motion ensues, and so on. Each of the different groups of sculptures in the exhibition room

has been given by the artists its own varied and characteristic movements.

Typically, in programming these movements Bettina Bürkle and Klaus Illi confine themselves deliberately to the inflation process, leaving the deflation to the natural balance of pressures. In this way they can allow their sculptures to breathe out as it were ‘naturally’, at a rate determined essentially by the size of the fan opening and the weight, size and shape of the fabric casing. This process has a decisive effect on the shape of the silk sculptures, since in breathing out they are also required to collapse in a certain manner so that they can gradually resume their desired shape on reinflation.

Given these facts we can quickly see why Bettina Bürkle and Klaus Illi often work with the shape of a column with ringshaped segments. The rings ensure that the column collapses like a concertina as the weight of the column itself expels the air through the pump situated at the bottom. The folding and the air draught determine the shape, which in theory can be extended in almost any way one wishes. In their form and dimensions the filled air columns bring to mind Konstantin Branscusi’s ‘Endless Column’, with which he wrote art history in the late 1930’s. This presented for the first time the principle of the serial repetition of a simple base form, through the accumulated reiteration of which we can experience infinity. The ‘Endless Column’ was impressive and momentous, but at the end it could not redeem its claim, since infinity is – strictly speaking – only thinkable or calculable, but never visible. Bettina Bürkle and Klaus Illi do not however use their columns to pursue Constantin Brancusi’s last and impossible venture of employing a physical, plastic medium to present a metaphysical concept in visible form. Instead, with their continual breathing they demonstrate another principle, this one valid for our world: the vital process. Seen from this angle the tall inflatable columns produced by this artist couple from Stuttgart constitute something like a realistic and worldly relevant response to Brancusi’s metaphysical excursion. 

It is therefore not surprising that these artists, in addition to abstract shapes such as columns, spheres or ovals, seize on forms taken direct from nature and reminiscent of drops, flowers or fruits. This connotation is especially to be found in the hanging sculptures with their shapes emerging from reed-like stalks, hanging in groups like clusters of blossom.

The hanging sculptures which Bettina Bürkle and Klaus Illi have produced specially for the Heidenheim exhibition, have

another source of fascination. Hanging structures of this size are rare in the history of sculpture. True, the American artist Alexander Calder produced big mobiles as early as the 1950’s, but they have no plastic volume, since they consist entirely of thin steel rods and sheets. If, for example, we compare with these the white Bürkle and Illi sculpture consisting of two connected spheres, the enormous plastic volume of the latter in its inflated state is immediately evident. Through its tightly stretched surface it conveys the impression of impressive strength which we do not find, for example, in the similar spherical shapes of hot-air balloons. The plastic aspect of the hanging sculptures is the result of their tight inflation and the fact that they hang, i.e. they have weight, and do not hover. This gives purely plastic phenomena such as strength, volume and weight a new and unusual form of visibility. Through the breathing process these phenomena appear as alternation between the two aggregate states of the collapsed envelope on the one hand and the powerfully inflated form on the other, of soft and hard, hanging and standing. 

And this brings us, I think, to the real core of Bettina Bürkle and Klaus Illi’s inflatable sculptures: their great fascination lies not only in their manifestation of basic plastic phenomena through the medium of fabric and air, but also in their addressing of human modes of perception and experience which are deeply rooted in our own basic structure. Summarizing it in general terms we can say that they permit life and art to enter an extremely successful symbiosis.

 

From catalogue

LUFTGARTENLUSTGARTEN

Kunstmuseum Heidenheim, 2006

© Dr. René Hirner