31.3.2012 KV Ludwigshafen
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
liebe Bettina, lieber Klaus,
Heute werden Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren auf ganz besondere Weise gefordert, die Kunst zu betrachten, denn sie hängt nicht - wie in Ausstellungen normalerweise meist üblich - an den Wänden, diese sind heute nackt und kahl. Ihre Blickrichtung wird in dieser Ausstellung immer wieder nach oben, hoch hinauf zur Decke unserer Ausstellungshalle gelenkt. Ich glaube, unsere Decke hat noch nie so viel Aufmerksamkeit bekommen, wie mit dieser Installation. Sie ist die Bühne für die pneumatischen Objekte von Bettina Bürkle und Klaus Illi. Über unseren Köpfen schwebt ein Wolkenmeer, das sich zwischen die Röhren der Klimaanlage und dem offenen Raster der Zwischendecke geschoben hat. Wolken in allen Größen von winzig klein bis zu einem Durchmesser von 5 Meter breiten sich unterhalb der Zwischendecke aus. Sie sind die Hauptakteure der Ausstellung. Leicht und sanft verändert jedes Objekt immer wieder seine Größe und Form. Sein Volumen schwillt langsam an und wieder ab.
Bewegung und Luft sind die zwei tragenden Elemente der kinetischen, aus felderleichten Ballonstoff bestehenden Skulpturen, aus denen die beiden Künstler Bettina Bürkle und Klaus Illi ihre raumbezogenen Installationen entwickeln.
Bewegung und Luft: Erlauben Sie mir dazu einen kurzen Blick zurück in die Kunstgeschichte: Es ist uns allen geläufig, dass Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts, die Entwicklung der Fotografie und des Films dazu führte, dass im Umfeld des Impressionismus, Futurismus, Konstruktivismus und des Bauhauses sich Künstler differenziert mit dem Thema Bewegung auseinander gesetzt haben. Das erste kinetische Objekt entstand bereits 1913. Es war eines der von Marcel Duchamp entwickelten Ready-mades, das mittlerweile legendäre „Fahrrad Rad“, das sich manuell betätigen ließ. Alexander Calder und Jean Tinguely machten sich die Ideen Marcel Duchamps, des Dadaismus und des Surrealismus zunutze und brachten damit endgültig die Bewegung in die Kunst.
Doch wann, so habe ich mich im Zuge der Vorbereitung zu dieser Ausstellung gefragt, hat sich die Luft als bildnerisches Material, in Form eines dreidimensionalen Körpers im wahrsten Sinne des Wortes in der Kunst ausgebreitet?
Und wieder war es Marcel Duchamps der bereits 1919 die Luft zum Kunstobjekt erkor und ein Stück Luft, Pariser Luft versteht sich, in einen Glaskörper „füllte“ und als „Air de Paris“ einem Sammler anbot. Vierzig Jahre später bläst der italienische Konzeptkünstler Piero Manzoni Luftballons auf und schafft allein mit seinem Odem Skulpturen, die er „Luftplastiken“ nennt. Er selbst bemerkt schon damals, dass „die wesentliche Bedeutung pneumatischer Werke nicht die Form sondern das Werden.“ sei.
Den entscheidenden Schritt machte dann die Ende der 1950er Jahre gegründete Gruppe Zero mit Heinz Mack und Otto Piene (und später Günther Uecker). Zero wollte die engen Grenzen des Ateliers verlassen, bezog offene Räume, die Natur, den Himmel in ihre Kunst mit ein. Auf der 8. Zero Ausstellung, der legendären Nachtausstellung, ließ Otto Piene bereits 1961 unter dem Thema „Das rote Bild“ warmluftgefüllte rote Ballons in den Himmel aufsteigen.
Die ersten dreidimensionalen, explizit als „Wolken“ bezeichneten Objekte schuf 1966 Andy Warhol. Seine sogenannten „Silver Clouds“ schwebten in der New Yorker Galerie Leo Castelli als silberne Objekte frei im Raum, während die Wände der Galerie mit überlebensgroßen Kuhköpfen tapeziert waren. Die Wolken sollten ursprünglich die geschwungenen Formen von Cumuluswolken nachahmen, doch die Rundungen ließen sich damals aus technischen Gründen nicht herstellen, also begnügte sich Warhol mit Rechtecken. Seine „Silver Clouds“ gruppierten sich wie eine Herde Schäfchenwolken an der Decke der Galerie.
Auf der 4. documenta 1968 in Kassel realisierten Christo und Jeanne–Claude die erste riesige, aus 5.600 Kubikmeter Luft und Helium bestehende Luftskulptur. Spätestens jetzt ist die Luft als Material in der Kunst angekommen.
Zurück zu unserer Ausstellung.
Luft ist flüchtig, dreidimensional und wandelbar. Für Bettina Bürkle und Klaus Illi ist Luft der ideale Stoff, um optische wie auch räumliche Veränderungen wahrnehmbar zu machen. Ihre pneumatischen Skulpturen machen die unsichtbare Luft sichtbar. Luft nimmt Gestalt an und löst sich gleichzeitig auch wieder auf. Luft wird eingesetzt als Element der Bewegung, der Statik und der Dynamik und Luft kann in dieser Installation auch akustisch wahrgenommen werden.
Seit 1999 entwickeln Bettina Bürkle und Klaus Illi gemeinsam ihre pneumatischen Skulpturen. Sie arbeiten in diesem Kontext zusammen, doch unabhängig davon entwickeln sie beide auch ihr eigenes künstlerisches Werk weiter.
In ihren bisherigen zahlreichen gemeinsamen Ausstellungen stand das Motiv der Pflanze, des Pflanzenatems ganz im Vordergrund. Sie entwickelten dafür üppige, paradiesartige Gärten mit pflanzenartigen Gewächsen in leuchtenden Grün, Gelb, Rot und Blau. Für diese Ausstellung haben sich beiden Künstler ganz besonders von der spezifischen Raumsituation unserer Ausstellungshalle leiten lassen und sich puristisch auf die Farben Weiß und Schwarz beschränkt: Ausgangspunkt für die Konzeption ihrer Installation war unsere Klimaanlage, die mit ihrem komplexen Röhrensystem, den zahlreichen Öffnungen für einen permanenten Luftaustausch in der Halle sorgt. Diese Anlage – oder wie Klaus Illi sagt, diese „Beatmungsmaschine“ hängt wie ein gewaltiger Koloss, an der Decke, sie dominiert den Raum und zieht ganz automatisch den Blick des Betrachters beim Betreten der Halle auf sich. Genau dieses Moment – was auch schon einige Künstler als visuelle Konkurrenz zu ihrem Werk empfunden haben – machen sich Bettina Bürkle und Klaus Illi zu eigen.
Sie beziehen ganz bewusst die technischen Elemente der großen „Luftmaschine“ in ihre Konzeption mit ein, sie wird Teil der Installation. Und so scheint es, als ob die aus den metallenen Röhren in die Halle strömende Luft wie eine „Beatmungsmaschine“ wieder in die Skulpturen zurückfließt, sich in den leichten, fließenden Stoffen ausdehnt diese quasi zum „Leben“ erweckt. Irgendwann entweicht die Luft wieder langsam. Der prall gefüllte Stoff wird locker und faltig, die klaren Formen und Konturen lösen sich auf, bis am Ende der Stoff völlig erschlafft nach unten hängt, um dann irgendwann wieder von Neuem mit Leben gefüllt zu werden.
Während die eingangs beschriebenen „Silver Clouds“ von Andy Warhol eine ironische Mischung aus Gebrauchs- und Konzeptkunst darstellten, ist die künstlerische Intension von Bettina Bürkle und Klaus Illi eine gänzlich andere: ihr inszenierter Wolkenhimmel simuliert uns allen bekannte Naturphänomene und stellt ein spannungsvolles Verhältnis zwischen Kunst, Natur und Technik dar. Wolken sind uns allen bekannt und doch ist hier alles anders als gewohnt. Es sind konstruierte Abbilder der Natur, die sich vor unseren Augen bewegen und ein unkontrolliertes Eigenleben entwickeln. Dieser künstliche Wolkenhimmel spielt zum einen mit dem Moment der Illusion während gleichzeitig dem Betrachter die technische Konstruktion nicht verborgen bleibt. Allein die offen am Boden liegenden Kabel verweisen auf ein kompliziertes elektronisches Steuerungssystem, das quasi auf Knopfdruck das Himmelstheater in Gang setzt.
Generell evozieren Wolken - und so auch diese luftigen Objekte - eine ganz besondere Sehlust. Wolken kommen aus dem Nichts und verschwinden wieder im Nichts. Dazwischen spielen sich unvorhersehbare Verwandlungen ab. Und so verändert auch dieser Wolkenhimmel ständig sein „Gesicht“, wenn über unser großes Oberlichtfenster die Halle mit Tageslicht durchflutet wird und je nach Sonnenstand und Wetterlage immer wieder neue Farb- und Lichtbrechungen entstehen.
Als Kontrapunkt zur horizontalen Bewegung der Wolkenschicht erheben sich die schlanken schwarzen, säulenartigen Objekte vom Boden, steigen senkrecht in die Höhe und tauchen in die Wolkenschicht ein. Sie strecken sich dem Licht, der Luft, den Wolken entgegen, erinnern an Pflanzenstängel oder auch an die endlose Säule Constantin Brancusis. Ihre Form ist streng und klar geordnet. Modulhaft reihen sich die einzelnen Segmente aneinander und unterscheiden sich somit deutlich von dem chaotisch unberechenbaren Formenspiel der Wolken. Sie nehmen in ihrer gegenläufigen Bewegung zum Wolkenhimmel einen starken dynamischen Gegenpart ein. In unterschiedlichen Rhythmen und Geschwindigkeiten entfalten sie sich, recken sich zur Decke empor, lenken den Blick nach oben und – wenn sie wieder in sich zusammen sinken – nach unten. Besonders diese oftmals überraschenden Bewegungsabläufe schaffen immer wieder auch sehr heitere und äußerst humorvolle Momente: man schmunzelt, lacht oder freut sich einfach.
Das besondere jeder Installation, so auch dieser, ist die Überwindung der Distanz zwischen Werk und Betrachter. Das traditionelle Gegenüber von Kunstwerk und Betrachter löst sich auf. Der Ausstellungsbesucher wird Teil der Inszenierung. Es findet ein ästhetisches Erlebnis statt, das man allein erfahren, aber auch mit anderen Besuchern teilen kann.
Eine ausgefeilte Choreografie (oder technisch gesprochen „Programmierung“) sorgt für eine ständig pulsierende Bewegung des sich Öffnens und Schließens, des Wachsens und des Zerfalls. Jedes Objekt besitzt jedoch nicht nur eine, sondern mehrere, unterschiedliche Bewegungsabläufe. Jeder Standortwechsel ergibt eine neue Perspektive.
In Abständen von ca. 20 Minuten findet ein kollektives Ein- und wieder Ausatmen statt. Darauf folgt ein Innehalten, ein Stillstand, dann scheinen alle Objekte zu „schweigen“ und es breitet sich langsam eine Ruhe aus, die nur noch vom zarten Knistern der Stoffe begleitet wird.
Gehen wir nochmals zum Ausgangsmaterial, zur Luft, zurück:
Luft ist ein Gemisch aus verschiedenen Gasen, die wir zum Leben brauchen. Luft ist die Lebensader des Menschen und der Natur. Luft bedeutet Atem und Leben. Sauerstoff wird vom Organismus über den Einatem aufgenommen und versorgt die Zellen mit Energie. Über den Ausatem wird Kohlendioxid wieder abgegeben. Meistens macht man sich diesen Vorgang nicht bewusst, man denkt nicht an die Luft, man nimmt sie nicht bewusst wahr, außer sie ist gegenüber dem gewohnten Zustand anders. Vielleicht haben Sie es heute Abend schon bemerkt, wie sich die fließenden Bewegungen und der „Atemrhythmus“ der Objekte ganz unmerklich auf einem selbst überträgt. Es ist eine Erfahrung die, wenn man alleine oder nur mit wenigen Menschen in der Ausstellung ist, ganz besonders deutlich spürt. Die atmende Bewegung der Objekte scheint die Halle mit Atemluft zu füllen, der Rhythmus des Ein- und des Ausatmes ist der Rhythmus des Lebens, an dessen Ende irgendwann auch der letzte Ausatem steht.
Um diese sehr subtilen Erfahrungen zu machen, braucht es Zeit, Ruhe, Hingabe und Aufmerksamkeit. Das Schwebende, Unscheinbare und das Flüchtige erschließen sich erst über eine kontemplative Aufmerksamkeit. Wir sind in unserer heutigen modernen, hyperaktiven Gesellschaft dabei, diese Fähigkeit zu verlieren. Wir leben heute, so der koreanische Philosoph und Medientheoretiker Byung-Chul Han, in einer Welt, die sehr arm ist an Unterbrechungen, arm an Zwischen und Zwischen-Zeiten die die Lange-Weile als kreativen Prozess nicht mehr kennt. Die Beschleunigung schafft jede Zwischen-Zeit ab.[1]
Bettina Bürkle und Klaus Illi machen dem Betrachter ein Angebot zu Verweilen, Inne zu halten und im besten Fall sich selbst- und zeitvergessen dem Geschehen hinzugeben.
Das ist das Kennzeichen des kindlichen Spiels das zu einem paradiesischen Zustand von Zeit- und Weltenthobenheit führen kann.
Ich wünsche Ihnen allen viele Freude bei dieser Form der Selbsterfahrung.
© Barbara Auer
Ludwigshafen, 30. März 2012
Die Geschichte der Wolken
von Hans Magnus Enzensberger
So wie sie auftauchen, über Nacht
oder aus heiterem Himmel,
kann man kaum behaupten,
dass sie geboren werden.
So wie sie unmerklich vergehen,
haben sie keine Ahnung vom Sterben.
Ihrer Vergänglichkeit kann sowieso
keiner das Wasser reichen.
Majestätisch einsam und weiß
steigen sie auf vor seidigem Blau
oder drängeln sich aneinander
wie frierende Tiere, kollektiv
und dumpf, ballen sich tintig
zu elektrischen Katastrophen,
dröhnen, leuchten, ungerührt,
hageln und schütten sich aus.
Dann wieder prahlen sie
mit eitlen Künsten, verfärben sich,
äffen alles, was fest ist, nach.
Ein Spiel ist ihre Geschichte,
unblutig, älter als unsere.
Historiker, Henker und Ärzte
brauchen sie nicht, kommen aus
ohne Häuptling, ohne Schlachten.
Ihre hohen Wanderungen
sind ruhig und unaufhaltsam.
Es kümmert sie nichts.
Wahrscheinlich glauben sie
an die Auferstehung, gedankenlos
glücklich wie ich, der ihnen
auf dem Rückend liegend
eine Weile lang zusieht.
[1] Vgl. Byung-Chul Hang, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2010
© Barbara Auer, Kunstverein Ludwigshafen